Weihnachtsaktion – Jemen mit dem Zeichenstift
Traugott Wöhrlin
Die beiden Begriffe „Jemen“ und „Zeichenstift“ scheinen überhaupt nicht zusammen zu passen, nicht nur angesichts der heutigen Situation in dem von Kriegselend und Hungersnot und innerer Zerrissenheit geplagten Land an der Südspitze der arabischen Halbinsel. Wer den Jemen kennt, der weiß, dass es dort auch in friedlichen Zeiten bislang kaum möglich war, irgendwo in Ruhe ein Motiv auf einem Zeichenblock festzuhalten.
Ich habe das auf vielen Reisen zwischen 1990 und 2008 zwar immer wieder versucht, aber egal wo: das Ergebnis war immer dasselbe: schon nach wenigen Augenblicken drängten sich neugierige Kinderköpfe direkt neben meine zeichnende Hand, um zu sehen, was da passiert. Sozusagen aus dem Nichts kamen im Nu weitere dazu, Halbwüchsige, ja sogar Erwachsene und Alte. Einmal habe ich schon nach wenigen Minuten gut dreißig Köpfe gezählt. Jeder Strich wurde kommentiert und das, worum es eigentlich beim Zeichnen geht, wurde schlicht unmöglich.
Aber um was geht es eigentlich beim Zeichnen oder Skizzieren?
Mit einer Kamera oder einem modernen Handy hat man doch das, was da festgehalten werden soll, sekundenschnell und zudem noch viel präziser erfasst… Wer also zeichnet, muss entweder verrückt oder irgendwie verdächtig sein, auf jeden Fall nicht normal.
Nur der Zeichner selbst weiß, dass es eigentlich gar nicht um das Motiv oder um das festzuhaltende Objekt an sich geht, sondern um die Auseinandersetzung mit ihm. Es geht um die Wahrnehmung der Formen, der Strukturen, der Kontraste, der Bewegungen, ja sogar der Atmosphäre… Ziel des Zeichnens ist also nicht das objektive „Abbilden“, sondern vielmehr das „Erleben“ oder „Erfassen“ des zunächst nur mit dem subjektiven Auge wahrgenommenen Motivs oder Themas. Das ist ein viel langsamerer und persönlicherer Prozess als das, was das Kameraauge „objektiv“ in Sekundenbruchteilen festhält. Zeichnungen haben also grundsätzlich einen subjektiven Charakter. Sie gleichen einer Erzählung. An die Stelle der Stimme und der Worte des Erzählers tritt hier die Spur des von der zeichnenden Hand geführten Stiftes auf dem Papier.
Meine vergeblichen Versuche vor Ort im Jemen haben mich gelehrt, dass man dies auch anhand des mitgebrachten Fotomaterials daheim am Zeichentisch mit viel größerer Ruhe zuwege bringen kann. Es war sozusagen eine zweite, meist noch viel intensivere Auseinandersetzung mit dem Jemen, mit seinen Menschen, seiner Architektur, seinen Landschaften und unzähligen anderen Details, denen man vor Ort höchstens ein paar flüchtige Augenblicke widmen kann.
Alle meine Jemenzeichnungen entsprechen damit dem inneren Bild, das ich aus friedlicheren Zeiten von dem jetzt so furchtbar geschundenen Land habe, mit dem ich mich nicht zuletzt gerade wegen dieser besonderen Wahrnehmung so sehr verbunden fühle. Nachdem diese auf Papier festgehaltenen Eindrücke schon in mehreren Ausstellungen Sympathien vieler Menschen für dieses Land vermittelt haben, hoffe ich, dass der Verein „Kinder Jemens in Not“ damit weitere Aufmerksamkeit und Unterstützung für seine so dringend notwendige Arbeit in diesem Land gewinnen kann.
Traugott Wöhrlin
1. Nov. 2019